Zwangssterilisationen

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Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses

In den 1920er Jahren war die Idee weit verbreitet, dass nur gesunde Menschen Kinder bekommen sollten. Die Nationalsozialisten setzten diese Idee radikal um. Am 1. Januar 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Als erbkrank galten die Menschen, die an einer der folgenden Krankheiten litten:

 

  • angeborener Schwachsinn
  • Schizophrenie
  • Zirkuläres (manisch-depressives) Irresein
  • Erbliche Fallsucht
  • Erblicher Veitstanz (Huntingtonsche Chorea) 
  • Erbliche Blindheit
  • Erbliche Taubheit
  • Schwere erbliche körperliche Mißbildung
  • „schwerer Alkoholismus“

 

In den Jahren von 1933 bis 1945 wurden mehr als 360 000 Menschen zwangsweise sterilisiert. Dies bedeutet, sie wurden unfruchtbar gemacht. Einige Vorsteher evangelischer Einrichtungen befürworteten an den Sterilisationen nach diesem Gesetz mitzuwirken. Auch Pastor Buhrfeind als Leiter der Rotenburger Anstalten setzte sich dafür ein. Das Krankenhaus des Diakonissen-Mutterhauses sollte für die Sterilisationen zugelassen werden.

„Nach erfolgter Unfruchtbar ­machung ist eine Beurlaubung wieder möglich.“

Direktion der Rotenburger Anstalten an die Eltern von Insassen, 1934 (ARW)

„Mit Rücksicht auf die zahlreichen Fälle von Sterilisierungen, die unter den Insassen unserer Anstalt (980 belegte Betten) ausgeführt werden müssen, bitte ich schon mit Rücksicht auf die Ersparung der Reisekosten und zur schnelleren Durchführung zuständigenorts zu befürworten, dass das Krankenhaus des Diakonissen-Mutterhauses in Rotenburg/Hann. für die Ausführung des chirurgischen Eingriffs an Erbkranken bestimmt wird.“

 

Schreiben Pastor Buhrfeinds an den zuständigen Regierungspräsidenten in Stade vom 21. März 1934. Buhrfeind bemühte sich um die Zulassung des Diakonissenkrankenhauses für Sterilisationen nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Im Juni 1934 erhielt das Krankenhaus die Genehmigung, die Operationen auszuführen.

Sterilisationen in Rotenburg

Viele der Insassen der Rotenburger Anstalten galten als erbkrank. Bis zum 30. September 1934 wurden 823 Patientinnen und Patienten von Leitung und Anstaltsärzten beim Gesundheitsamt Rotenburg als erbkrank oder erbkrankverdächtig angezeigt. Bis Anfang 1936 waren 162 Insassen zwangsweise sterilisiert worden.106 davon wegen „angeborenem Schwachsinn“, 51 wegen „erblicher Fallsucht“. Davon waren drei Opfer unter 14 Jahre alt. 65 Opfer waren noch nicht 21 Jahre alt. Bis 1943 wurden nachweislich 238 männliche und 97 weibliche Insassen der Rotenburger Anstalten sterilisiert. (ARW VA 642) Zwei junge Frauen aus den Rotenburger Anstalten überlebten den Eingriff nicht. Adele Nöbling wurde im Juli 1935 sterilisiert. Sie starb kurz nach der Operation. Dies war nur wenige Tage vor ihrem dreiunddreißigsten Geburtstag. Die dreizehnjährige Else Warnken verschied im Juni 1937. Sie starb an den Folgen der Sterilisation.

„… schnell, reibungslos und in großem Umfang“

(Rotenburger Anstalten, Zuflucht unter dem Schatten deiner Flügel? Die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission in den Jahren 1933–1945, Rotenburg 1992, S. 11)

Zwangs­sterilisationen im Krankenhaus des Diakonissen-Mutterhauses

Nach der Anzeige und Begutachtung durch den Amtsarzt erfolgte ein Antrag auf Unfruchtbarmachung beim zuständigen Erbgesundheitsgericht. Betroffene und Familienangehörige sahen sich zum Einverständnis gedrängt. Ansonsten wären Beurlaubungen oder Entlassungen nicht mehr gewährt worden. Nach richterlicher Entscheidung führte der Chirurg des Diakonissenkrankenhauses, Dr. Ernst Schmidt, die Sterilisationen durch.

Dr. Ernst Schmidt, als Chirurg im Diakonissen-Krankenhaus zuständig für die Sterilisationen (Slg. Klaus Brünjes)

Portraitbild von Pastor Johann Buhrfeind
Pastor Johann Buhrfeind (1872–1950), etwa 1944 (ARM AN 2). Wie viele Zeitgenossen hatte Buhrfeind keine Vorbehalte dagegen, eugenische Zielsetzungen zu unterstützen.

Der langjährige Anstaltsarzt Dr. Adolf Ressel war auch als Amtsarzt in Rotenburg tätig. Sein Nachfolger war Dr. Ernst Rustige. Beide waren zeitweilig auch im Erbgesundheitsgericht Verden tätig. Das zeigt, dass eine unabhängige amtsärztliche oder richterliche Kontrolle der Unfruchtbarmachungen nicht gegeben war. Das neue Gesetz mit seinen Durchführungsverordnungen ließ die Entscheidungen rechtens erscheinen. In Wirklichkeit aber wurden die Betroffenen entmündigt und entrechtet. Viele der von Unfruchtbarmachung Betroffenen und ihre Angehörigen schwiegen jahrzehntelang aus Angst oder Scham.  Das Gesetz wurde erst 2007 vom deutschen Bundestag geächtet und die Opfer gesellschaftlich rehabilitiert. Seit 1980 konnten Zwangssterilisierte eine kleine Einmalzahlung als Härtefallregelung zur Entschädigung erhalten, später monatliche Beihilfen.

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