Zur 50-Jahr-Feier wird das „Asyl für Epileptische und Idioten“ umbenannt in „Rotenburger Anstalten der Inneren Mission, Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische, Geistesschwache und -kranke“, weil der bisherige Name im Verkehr mit den Angehörigen zu mancherlei Beschwernissen führte und die Bezeichnung nicht mehr der Aufgabe entsprach, die sich unsere Anstalt in den letzten 25 Jahren gestellt hatte, die nicht allein der Bewahrung, sondern der Heilung und Ausbildung sich zuwendete“ (s. Chronik 1980, S. 35)
Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler
Eröffnung des ersten Konzentrationslagers (Dachau)
Verabschiedung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses". Zwischen 1934 und 1939 (Beendigung der Sterilisation) werden circa 400.000 Menschen sterilisiert.
Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses tritt in Kraft.
Erste Zwangssterilisation eines Bewohners der Rotenburger Anstalten im Krankenhaus der Inneren Mission in Rotenburg.
Die "Nürnberger Gesetze" bzw. "Nürnberger Rassengesetze" werden verabschiedet.
Erlass zur "Kinder-Euthanasie"
Beginn des zweiten Weltkrieges. Auf diesen Termin wird der von Hitler im Oktober 1939 unterschriebene allgemeine "Euthanasie-Erlass" rückdatiert.
Beginn der Aktion "T4", der organiserten Tötung von Patienten (benannt nach Tiergartenstraße 4, Berlin - dem Sitz der mit der Durchführung des "Euthanasie"-Programms beauftragten Amtes.
Beginn der Morde an Kranken und Behinderten in „Euthanasie“-Tötungsanstalten
Verlegung von drei jüdischen Insassen der Rotenburger Anstalten in die Landes-, Heil-und Pflegeanstalt Wunstorf. Diese galt als Sammelstelle für norddeutsche jüdischen Patientinnen und Patienten. Sie wurden wenige Tage später mit einem Transport am 27. September in die Tötungsanstalt Brandenburg/Havel transportiert. Dort wurden sie in der Gaskammer getötet.
Eintreffen einer Ärztekommission unter Leitung von Dr. Theodor Steinmeyer in Rotenburg. Sie füllten die Meldebögen zur Erfassung der Insassen aus.
Verlegung von 140 Insassen der Rotenburger Anstalten nach Weilmünster
Beendigung der Aktion "T4". Angesichts zunehmender Unruhe in der Bevölkerung und Einsprüchen insbesondere von kirchlicher Seite lässt Hitler die Gasmorde stoppen. Die Ermordung von Kranken und Behinderten wird mit anderen Mitteln fortgesetzt, durch Medikamentengaben, Vernachlässigung und Hungerkost.
Ermordung von über 70.000 psychisch kranker Menschen im Reichsgebiet
Räumung der Rotenburger Anstalten und Verlegung der Insassen in andere Anstalten. Nur rund 250 Patientinnen und Patienten bleiben in Rotenburg. Sie arbeiten daran mit, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Die Einrichtung eines Reservelazaretts der Wehrmacht erfolgt.
Beginn der dezentralen Euthanasie. In circa 15 Anstalten werden Sonderstationen eingerichtet, in denen Menschen mit Gift ermordet werden. Pastor Buhrfeind geht in den Ruhestand, sein Nachfolger wird Pastor Wilhelm Unger.
Einführung der Hungerkost in vielen Reichsanstalten. Circa 90.000 Menschen sterben an ihren Folgen.
Letzte Zwangssterilisationen im Diakonissenkrankenhaus
Erlass zur Errichtung von "Ostarbeiter-Sammelstellen" in 11 psychiatrischen Anstalten. Beginn der Tötung nicht "einsatzfähiger" Zwangsarbeiter.
Kapitulation des Deutschen Reiches.
Entnazifizierungsverfahren gegen Leitung und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Rotenburger Anstalten und des Diakonissen-Mutterhauses
Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen zu den Verlegungen von Rotenburger Kranken und „Euthanasie“-Prozess gegen Verantwortliche der Provinzialverwaltung enden 1950 mit Freispruch.
Pastor Johannes Buhrfeind stirbt im Alter von 78 Jahren.
Das Diakonissen-Mutterhaus mit seinem Krankenhaus und die Rotenburger Anstalten werden organisatorisch getrennt. Sie erhalten jeweils eigene Leitungen. Die Rotenburger Anstalten werden umbenannt in Rotenburger Werke der Inneren Mission.
Der Begriff „Euthanasie“ bedeutet – wortwörtlich aus dem Griechischen übersetzt – „guter Tod“. Als „leichter Tod“ stand er schon in der Antike im Gegensatz zum langsamen, qualvollen Sterben. Bei den Nationalsozialisten leistete dieser Begriff die propagandistische Aufgabe der Verschleierung eines Verbrechens, denn dieser Begriff bedeutete die systematische Vernichtung von Leben, das als „lebensunwert“ betrachtet wurde. Für die Nationalsozialisten brachten Menschen mit Behinderung keinen Nutzen für die sogenannte „Volksgemeinschaft“. „Unnütze Esser“ hatten nach Ansicht der Nazis kein Recht auf Leben, erst recht nicht in Kriegszeiten mit knappen Ressourcen. Beschönigt wurde dieses mörderische Vorgehen mit der Aussage, Menschen bzw. Kinder, denen man nicht mehr helfen kann, müsse man „erlösen“.
Besonders zynisch: Einige der ersten Opfer der NS-Euthanasie waren Kinder. Seit August 1939 sollten Hebammen, Geburtshelfer und Mitarbeiter von Entbindungsstationen Behinderungen melden. Viele Heil- und Pflegeanstalten gründeten spezielle „Kinderfachabteilungen“; hier wurden bis 1945 ca. 5.000 geistig und körperlich behinderte Kinder und Jugendliche ermordet.
Die Leiter von Heil- und Pflegeanstalten mussten für alle Patienten sogenannte „Meldebögen“ ausfüllen. Die Bögen schickten sie nach Berlin, und andere psychiatrische Gutachter setzten Zeichen darauf: Ein blaues Minus bedeutete Überleben, ein rotes Plus den Tod. Die „Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft“ brachte die Patienten in sechs spezielle Tötungsanstalten. Dort wurden sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in Gaskammern ermordet, bis 1941 insgesamt ca. 70.000 Personen. Dieses Verfahren bereitete zugleich die Ermordung der europäischen Juden technisch und organisatorisch vor.
Im August 1941 stoppte Hitler die Aktion „T4“. Seit Anfang des Jahres verbreiteten sich Informationen über die Morde in der Bevölkerung und führten zu Unruhe und Protesten von Angehörigen sowie von kirchlicher Seite. Von nun an ermordeten Ärzte, Pfleger und Schwestern die Psychiatriepatienten direkt in den Anstalten. Dies geschah zunächst mit Gift und ab 1943 außerdem gezielt mit einer nährstofflosen Entzugs- oder „E-Kost“: Die Menschen verhungerten oder erlagen der Tuberkulose oder einer Lungenentzündung, an der viele der geschwächten Patienten erkrankten.
Insgesamt tötete man in Deutschland zwischen 1939 und 1945 mehr als 200.000 Patienten in vermeintlichen „Heil- und Pflegeanstalten“. Hinzu kamen geschätzt weitere 100.000 Opfer in den besetzten Gebieten Europas. Viele Täter arbeiteten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Ärzte weiter. Nur wenige mussten sich vor Gericht für ihre Taten verantworten und noch weniger mussten ihre Strafe tatsächlich verbüßen. Das Thema wurde anschließend jahrzehntelang weitgehend verschwiegen. Erst Ende der 1970er Jahre begann die wissenschaftliche Aufarbeitung der Verbrechen der NS-Euthanasie.
Quelle für den Text: https://www.kinofenster.de/download/nebel-im-august-fh2-pdf
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