Bereits 1939 begann die NS-Führung mit Vorbereitungen zur systematischen Ermordung von psychisch und körperlich Kranken. Dies bezeichnet man als NS-Euthanasie. Dafür teilten die Nationalsozialisten die Menschen in lebenswert und lebensunwert ein. Die Vernichtung der „lebensunwerten“ Menschen bis 1941 wurde unter dem Begriff „Aktion T4“ durchgeführt. Benannt wurde es nach dem Sitz der Verwaltungszentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4. Für die Nationalsozialisten brachten Menschen mit Behinderung keinen Nutzen für die sogenannte „Volksgemeinschaft“. Erst recht in Kriegszeiten mit knappen Ressourcen galten sie als „Unnütze Esser“. Dieses mörderische Vorgehen wurde beschönigt. Denn es hieß: Diesen Menschen bzw. Kindern könne man nicht mehr helfen. Und deshalb müsse man sie „erlösen“.
Einige der ersten Opfer waren Kinder. Seit August 1939 sollten Hebammen, Geburtshelfer und Mitarbeiter von Entbindungsstationen Behinderungen melden. Viele Heil-und Pflegeanstalten gründeten spezielle „Kinderfachabteilungen“. Hier wurden bis 1945 ca. 5.000 geistig und körperlich behinderte Kinder und Jugendliche ermordet.
Die Planung der systematischen Tötung erwachsener Patienten begann im Oktober 1939 mit einem Erlass Adolf Hitlers.
Die Leiter von Heil-und Pflegeanstalten mussten für alle Patienten sogenannte „Meldebögen“ ausfüllen. Die Bögen schickten sie nach Berlin. Andere psychiatrische Gutachter setzten Zeichen darauf: Ein blaues Minus bedeutete Überleben. Ein rotes Plus den Tod. Die „Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft“ brachte die Patienten in sechs spezielle Tötungsanstalten. Dort wurden sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in Gaskammern ermordet. Bis 1941 waren es ca. 70.000 Personen. Dieses Verfahren bereitete zugleich die Ermordung der europäischen Juden vor.
Dr. Linden, Reichsministerium des Innern, in Erlass vom 26. Juli 1940 (zit. in Asmus Finzen, Massenmord ohne Schuldgefühl, Bonn 1996 S. 127)
In Einrichtungen der Inneren Mission wie den Rotenburger Anstalten waren die Insassen vor den Mordaktionen nicht besser geschützt als in nicht-kirchlichen Einrichtungen. Ende August 1939 wurde das neue Männerhaus, der Saal des Schwesternheimes und ein Raum im Krankenhaus als Reservelazarett genutzt. Bereits Ende September wurden 300 polnische Kriegsgefangene hier untergebracht. Die Patientinnen und Patienten der Rotenburger Anstalten mussten in den verbliebenen Räumen zusammenrücken. In den Rotenburger Anstalten lebten 1940 rund 1100 Patientinnen und Patienten. In dem Jahr wurden die Rotenburger Anstalten dazu bestimmt, ihre Insassen in andere Einrichtungen zu verlegen. Sie sollten im Rahmen der „Aktion T4“ erfasst und ermordet werden. Im Juni 1940 erhielten die Rotenburger Anstalten Meldebögen. Auf denen sollten sie ihre Kranken erfassen und beurteilen. Zunächst setzte die Direktion darauf, Zeit zu gewinnen. Die Verzögerung gelang bis zum Frühjahr 1941. Am 24. April 1941 traf eine externe Ärztekommission in Rotenburg ein. Diese füllte die Meldebögen für die Anstalt aus. Vier Ärzte und drei Schreibkräfte „begutachteten“ innerhalb von vier Tagen die über 1100 Insassen der Rotenburger Anstalten.
Pastor Buhrfeind erreichte, dass 240 Patientinnen und Patienten nicht verlegt wurden, da sie für den Erhalt der Anstalt und vielfältige praktische Arbeiten gebraucht wurden.
„AUFGRUND DIESER RÜCKSPRACHEN HABE ICH KEINE BEDENKEN MEHR GEHABT, DIE KRANKEN ZU VERLEGEN“
Zitat: Johann Buhrfeind, Vernehmungsprotokoll vom 3. Juni 1948 (ARW VA 1538)
Bewohnerinnen und Bewohner der Rotenburger Anstalten und eine Schwester bei landwirtschaftlichen Arbeiten (Slg. Klaus Brünjes)
Mit diesem Formular (Meldebogen 1) wurden die Anstaltsinsassen, hier ein junger Mann aus Bremen, erfasst. Nicht endgültig entscheiden lässt sich, ob die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Rotenburger Anstalten die Meldebögen ausfüllten, aber nicht absandten, oder ob sie zum Teil bzw. vollständig versandt wurden. (ARW BA 3422). Nach eigenen Aussagen wirkten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Rotenburg an der Auswahl der zu verlegenden Kranken mit. Sie versuchten die Patientinnen und Patienten gut darzustellen. Damit versuchten sie Einfluss auf die externen Gutachter zu nehmen. Arbeitsfähige und kooperative Insassen hatten größere Chancen in Rotenburg bleiben zu können. Auch regelmäßige Kontakte zu Angehörigen konnten ein Schutz sein. In Einzelfällen wurden die Familien informiert. Damit hatten Sie die Chance, ihre Angehörigen nach Hause zu holen. In anderen Fällen informierte die Direktion die Angehörigen erst nach dem Abtransport in eine andere Anstalt.
Im Oktober 1941 fand die Anstaltsräumung statt. Über 800 Insassen wurden deportiert. Nachweislich wurden 562 Kranke nach ihrer Verlegung ermordet. Bei etwa 50 Patientinnen und Patienten ist das Schicksal ungeklärt. Etwa 100 Überlebende konnten ausfindig gemacht werden. Bekanntlich durften 240 Insassen als Arbeitskräfte bleiben.
Hitler stoppte die Ermordung in Gaskammern im August 1941. Grund hierfür waren Unruhen und Proteste der Bevölkerung und Kirche. Von nun an ermordeten Ärzte, Pfleger und Schwestern die Psychiatriepatienten direkt in den Anstalten. Dies geschah zunächst mit Gift. Ab 1943 außerdem gezielt mit einer nährstofflosen Entzugs-oder „E-Kost“: Die Menschen verhungerten oder starben an Tuberkulose. Viele der geschwächten Patienten bekamen eine Lungenentzündung und starben auch daran.
Insgesamt tötete man in Deutschland zwischen 1939 und 1945 mehr als 200.000 Patienten in vermeintlichen „Heil-und Pflegeanstalten“. Hinzu kamen geschätzt weitere 100.000 Opfer in den besetzten Gebieten Europas. Viele Täter arbeiteten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Ärzte weiter. Nur wenige mussten sich vor Gericht für ihre Taten verantworten. Noch weniger mussten ihre Strafe tatsächlich verbüßen. Das Thema wurde anschließend jahrzehntelang weitgehend verschwiegen. Erst Ende der 1970er Jahre begann die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Verbrechen.
(Von rechts nach links) Dr. Theodor Steinmeyer, der die externe Ärztekommission leitete,
ein Fahrer, Frau Mennecke, Frau Steinmeyer (s. Verlegt nach Hadamar. Die Geschichte einer NS-„Euthanasie“-Anstalt,
Kassel 2009, S. 78, Slg. Ernst Klee)
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